Vorworte
Unterstellung einer Weltmechanik – auch in der Ökonomik
Vorwort von Ulf Heinsohn zur Neuausgabe (2013)
Dieses Buch las ich fünf Jahre nach seinem ersten Erscheinen. Ich erwarb es beim Verleger der ersten Auflage. Dieses Buch hat mein Bewusstsein erweitert, und das kann anderen Lesern auch so gehen.
Der Anlass dafür, dass Christian Blöss mich bat, ein Vorwort zur Neuauflage zu schreiben, war ein trauriger. Blöss und ich begegneten uns am 17. November 2010 auf der Trauerfeier für unseren langjährigen Freund Hans-Ulrich Niemitz (22. November 1946 – 2. November 2010) auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf. Meinem Begleiter Hans-Joachim Stadermann stellte ich Blöss als Autor dieses Buches vor und versuchte eine kurze Inhaltsbeschreibung.
Eigentlich hatte ich Maschinenkinder gelesen, um zu verstehen, wie ein Teil der Menschheit sich Naturwissenschaft und Technik erschaffen hat. Während so viele Bücher der Technik- und Wissenschaftsgeschichte nur das Wann und Wie der zeitlichen Abfolge darstellen, durchleuchtet dieses Buch das Warum.
Das Wirtschaftssystem der römischen Antike und der griechischen Poleis ist m. E. vom ökonomischen – nicht technologischen – Aspekt her dem heutigen höchst verwandt. Da Technik und Naturwissenschaft als Ergebnis des allgemeinen oder gar wirtschaftlichen Fortschritts missverstanden werden, erscheint das Wirtschaftssystem des antiken Roms und der Poleis so anders als das heutige. Aber wirtschaftlich standen die Menschen der Antike vor denselben Herausforderungen wie die heutigen, Geld aufzunehmen, zu investieren, aus so erzielten Erträgen zu verzinsen und zu tilgen.
Ich wollte wissen, „warum weder Athen noch Rom … vorhandene Technologie zur Rationalisierung einsetzten, obwohl es ein Beitrag gewesen wäre, wie vom Einzelnen ein Wettbewerbsvorteil zu erringen und damit von der existenzbedrohenden Überschuldungsschwelle wegzukommen gewesen wäre.“ (p. 188, Auslassung U.H.) Und sei es auch nur für kurze Zeit, bis die Konkurrenz wieder nachzöge.
Manche Wirtschaftsgeschichte nimmt die Verbreitung neuer Technologien als Indiz für ein neues Wirtschaftssystem. So heißt es, nach dem Kapitalismus, wo Wirtschafter Vermögen als Kapital in der Produktion einsetzen, sei die Konsumgesellschaft gekommen, als sei die billige Produktion von Konsumgütern nicht Ausfluss des Wettbewerbs der Kapital einsetzenden Wirtschafter um die Lohngelder der abhängig Beschäftigten. Darauf folge die Wissensgesellschaft, als förderten und nutzten Wirtschafter in Industrienationen teuer zu gewinnendes Wissen nicht deshalb als Kapital, um sich von ihrer Konkurrenz ganz legal, aber eben nur temporär, abzusetzen.
Die Wirtschaft mit Eigentumsrechten an Produktionsmitteln gründet auf Institutionen wie Freiheit, Recht, Vermögen – Niemitz spezifizierte dieses als Proprietas –, Bankrott, Geld, Vertrag, Haftung und Wettbewerb. Wo diese Institutionen fehlen, bewirkt jedes – z.B. als Entwicklungshilfe bereitgestellte – Kapitalgut oder Wissen wenig bis nichts.
Blöss schreibt (p. 207): „Um verstehen zu können, warum Wirtschaftssubjekte einmal sich dem Einsatz von Technologie verweigerten, das anderemal aber in einer geradezu ausufernden Integration von Technologie – nicht nur in den Produktionsprozeß, sondern auch in die Privatsphäre – ihr Heil suchten, muß auch die jeweilige Struktur der Kultur betrachtet werden, innerhalb der die Privateigentümer ihre Integrität gegenüber den sozialen und wirtschaftlichen Bedrohungen zu sichern versuchten.“ Wie mein Onkel Gunnar Heinsohn im Vorwort zur ersten Auflage beschrieb, war der Ursprung der antiken Gesellschaft der Eigentümer der Poleis und Roms mit Bedrohungen verbunden, aus denen sich ein kultureller Kontext entwickelte (Kult um Gründerheroen), während die moderne Wirtschaft freier Eigentümer aus einem Kompromiss nach militärischem Patt hervorging (Vgl. pp. 197-202). Angesichts dieser Unterschiede entwickelten die Gesellschaften andere Praktiken der gemeinsam und individuell geübten Angstabwehr (p. 189). Blöss führt an (p. 211), dass Franz Kiechle für die antiken Wirtschaften mit Eigentum eine kontinuierliche technische Entwicklung konstatiert, wobei Sklavenpreis und Technikeinsatz nicht positiv mit einander korrelierten. Als Maschinen fehlende Sklavenarbeit hätten ersetzen können, kam es nicht dazu, obwohl es weder an einsatzreifer Technik noch an Freien mangelte, die durch Innovation und deren Umsetzung hätten reüssieren können.
„Die antiken Privateigentümer versicherten sich gegen die ihrer Gesellschaftsstruktur nicht weniger eignende Angst … vermittels Teilhabe an Bildern von Göttern und Helden, die noch stets das Unheil von ihnen ferngehalten hätten. Eine derartige Integritätsversicherung muss die Übernahme einer Zwangsstruktur, wie sie Technologie darstellt, als Zumutung zurückweisen, da diese die klare Forderung nach Beschränkung und Gehorsam beinhaltet, die mit den Versprechungen, die aus einer personifizierten Allmacht zu ziehen sind, nicht zusammengehen können.“ (p. 212, Auslassung U.H.) Naturwissenschaft und Technik seien in der Antike Nischenphänomene geblieben, da sie Menschen der Antike keinen lustvollen Beitrag im täglichen Umgang mit inneren und äußeren Bedrohungen leisten konnten.
Hanns Sachs’ Arbeitshypothese lautete, dass es „ein narzißtischer Konflikt gewesen sei, der diese Hemmung den Menschen der Antike einwurzelte. Der besonders entwickelte Narzißmus der antiken Kulturmenschen hätte eine Begegnung mit dem scheinbar Belebten und doch nicht Natürlichen besonders unheimlich und deswegen besonders unerträglich gemacht. Die antike Kultur sei dermaßen selbstbezogen und Ich-idealisierend gewesen, daß jedes der Imitation auch nur Verdächtige im Kulturkreis nicht geduldet werden konnte.“ (p. 222)
Gunnar Heinsohn überschrieb sein Vorwort zur ersten Auflage mit den Worten: „Hat Aufklärung überhaupt schon begonnen?“ Das war ein Schock, denn ich war und bin den Inhalten der Aufklärung zugetan. Was tun? Sollte man das Buch gleich wieder zuschlagen, sein gekränktes Ego streicheln und die Existenz des Buches verdrängen? Oder sollte man die Kränkung parieren, das Buch lesen aber nur in der Absicht, aus ihm Gegenargumente zu sammeln und den eigenen Widerspruch zu stählen, um Blössens These wirkungsvoll abzuschmettern? Oder konnte man erst einmal versuchen – Kränkung hin oder her –, die These zu verstehen? Ich entschied mich für die dritte Option und empfehle dies jedem Leser.
Wie Blöss anhand der Selbstzeugnisse führender Aufklärer und Naturwissenschaftler vorführt, ging es ihnen nicht nur um die Überwindung der zu ihrer Zeit vorherrschenden Kultur. Deren Anhänger sahen in allem eine göttliche Ordnung am Werke und entblödeten sich oft nicht, Autokratie und Diktatur als Gnade eines gütigen Gottes zu rechtfertigen.
Als Erkenntnis der Lektüre bleibt, dass die von den Aufklärern begründete neue Kulturepoche die Bezeichnung Aufklärung nicht verdient. Man darf ›Aufklärung‹ nicht wörtlich nehmen, sondern muss den Terminus eher als einen wirksamen Kampfbegriff verstehen, der in der Auseinandersetzung mit den Vertretern der alten Ordnung diese umso finsterer und trüber aussehen lässt.
Es hat sich gelohnt, die Kränkung des Egos bei der Lektüre auszuhalten. Blöss zeigt, dass viele Aufklärer und Naturwissenschaftler sich wie Getriebene verhielten, die an die Stelle der ›göttlichen‹ Ordnung, als Garant menschlicher Existenz, die Natur als sicheres System setzten. John Maynard Keynes charakterisierte Isaac Newton als einen, der nicht entdecken, sondern vielmehr das längst als seine Gewissheit Betrachtete nur bewahrheiten wollte (p. 223seq.). Das verlässliche Funktionieren der Natur, als sei sie ein menschengemachter Mechanismus, sollte durch Bestimmung von Naturgesetzen als bewiesen gelten. Immanuel Kant bannte die Natur in die sicheren Abläufe, die die Newtonschen Gesetze beschrieben (p. 55). Damit trat Kant jenen entgegen, die nach Fortfall des Glaubens an einen gütigen Gott auch blinden Zufall nicht ausschließen mochten. Wann immer Zweifel an der geordneten Gesetzlichkeit der Systems Natur aufkamen, riefen Aufklärer und Naturwissenschaftler sich zur Ordnung, und gingen gegen andere vor, die ihrerseits zweifelten.
Ihre Getriebenheit zeigt sich besonders dort, wo sie ihre Argumente für verlässliche Geltung der Naturgesetze nicht für sich stehen ließen, sondern schon stets vorauseilend versicherten, dass das Fehlen einer sichernden Ordnung als absurd, völlig ausgeschlossen oder gar fahrlässig gelten müsse (p. 59).
Das klingt, als müsse man extra darauf hinweisen, dass der Lauf der Welt, die Vorgänge der Natur autonom ablaufen, egal mit welcher Theorie Menschen sich diese erklären! In dem von Galileo Galilei verfassten Dialog mit Filippo Salviati legte er diesem in den Mund, er finde es kindisch, dass Ptolemaios und Aristoteles die Befürchtung äußerten, der Gedanke, dass die Erde sich bewegt, gefährde ihre Sicherheit (p. 47seq.). Als könne ein Gedanke über den Lauf der Erde diese selbst gefährden. Die Welt wird auch nicht unsicher, wenn Menschen eine Chaostheorie vorziehen. Und wenn alle menschliche Theorie von Natur und Raum falsch ist, juckt das beide nicht im Geringsten.
Naturgesetze sind ein Ausdruck des menschlichen Willens, die Natur als sicheres System darzustellen, mit dem Anspruch, oder doch wohl der Hoffnung, richtig zu erklären, wie die Natur funktioniert. Allein die Vorstellung, die Natur sei tatsächlich ein durchschaubares System, ist starker Tobak. Ist denn auszuschließen, dass sie nicht doch Chaos ist? Und was wäre dabei? Dass Chaos gleichbedeutend sei mit Untergang, ist eine unbewiesene Unterstellung.
Damit sind wir bei einer der Kernaussagen des Buches. Die Naturwissenschaft beschreibt Blöss als kulturelle Ausdrucksform mit intensivem Bezug zur Angst des Menschen (pp. 63, 74): „Es gibt Angst vor Naturwissenschaft und Technik, es gibt Angst durch sie und es gibt eine Angst, die hinter der wissenschaftlichen Bemühung steht und sie antreibt. Diese Facette ist am dunkelsten und wird im Gegensatz zu den anderen selten thematisiert.“
Vor allem der letzten Angst spürt Blöss nach, indem er die Selbstzeugnisse von Wissenschaftlern daraufhin untersucht, seine Funde hier vorführt und analysiert. Die Vertreter der ›göttlichen‹ Ordnung waren gegen Menschen vorgegangen, die deren ›Göttlichkeit‹ bestritten. Sie hatten dies getan, weil ihnen die Zustimmung zur Theorie der ›göttlichen‹ Ordnung ein beruhigendes Gefühl vermittelt hatte: Alles verlaufe in sicheren, nämlich göttlich bestimmten Bahnen. Wenn man die Theorie dieser Ordnung nun also ablehnte und als widerlegt darstellte, dann war das keine Geschmacksfrage, sondern eine schwer zu ertragende Verunsicherung. Die Reaktionen darauf waren emotional, nicht rational.
Da auch die Vertreter der Naturwissenschaft v. a. eine sichere Ordnung beweisen wollen, also neben aller wissenschaftlichen Neugierde doch immer eine offene emotionale Flanke zu decken haben, reagieren sie auf Infragestellung ihrer ›natürlichen‹ Ordnung nicht minder emotional. Das so vorgeführt zu bekommen, hatte ich vor der Lektüre nie erwartet.
Bei vielen Menschen, wie auch bei mir, erlebe ich einen Drang, zu erfahren, wie die Dinge funktionieren. Wenn etwas chaotisch erscheint, bereitet es Befriedigung, aber eben auch seelische Befriedung, wenn man glaubt durch Anwendung einer Theorie dennoch mechanische, reproduzierbare Vorgänge erkennen zu können. Aber mitunter bleibt es nur dabei, eine Theorie entwickelt zu haben, die nichts entdeckt, sondern nur etwas behauptet, das dem Bedürfnis nach Sicherheit der Abläufe genügt, diese dabei aber völlig fehldeutet oder andere ungewollte aber höchst wirkmächtige Folgen hat.
Messungen ergaben für die Venus hohe Temperaturen, obwohl sie laut Theorie unerschüttert von Anbeginn ihren Platz im Sonnensystem gehabt haben soll. Um eine bedrohliche Kometenexistenz der frühen Venus auszuschließen, entwickelte man die Hilfshypothese (im Sinne Imre Lakatoss) vom Treibhauseffekt, bedingt durch hohen CO2-Gehalt in ihrer Atmosphäre (Vgl. p. 133seqq). Nun sorgt der zur Stützung bisheriger Urknalltheorie willkommene, aber unbewiesene Treibhauseffekt der Venus auf der Erde für Weltuntergangsstimmung! Theorien darüber, wie das Klima immer wieder schwankt, haben kaum Liebhaber, müssen sie doch prophezeien, dass blühende Kontinente unbewohnbar werden können, ohne dass Menschen das abzuwenden vermöchten. Diese Ohnmacht ist für Menschen schwer auszuhalten. Naturwissenschaft, die ein stabiles Erdklima als ›natürlich‹ unterstellt, ist willkommen, verspricht sichere Existenz.
Ändert sich das Klima dennoch, muss etwas diese ›natürliche‹ Ordnung gestört haben. Der gefürchteten Ohnmacht setzen Menschen ihren Glauben an ihre eigene Allmacht entgegen: Sie sehen den Menschen als Ursache, als quasi einziges Wesen, das das sonst stabil geglaubte Klima verändern kann! Lieber eine noch so unzulängliche Theorie als keine, weswegen sie verteidigt wird! Nun sind teure Stellenpläne zur Klimaforschung gewährt und noch viel teurere Umstellungen der Energieproduktion im Gang. Die Umverteilung von Einkommen zu wenigen Forschern und Erzeugern vorgeblich korrekter Energie will keiner als deren Handlungsmotiv sehen.
Im Buchtitel findet sich der Wunsch wieder, aus einem Verlangen nach Sicherheit des Weltenlaufs heraus etwas Mechanisches als Erklärung aufzudecken – in kindischer Weise auch dann, wenn dies nur zum Schein erfüllt ist: Menschen der Aufklärungskultur sind Maschinenkinder, die kindliche Befriedigung erfahren, wenn sie etwas vorher Undurchschaubares, Ängstigendes als System erkennen können, in dem alles wie in einer Maschine stets mit vorhersehbarem Ausgang abläuft. Die Welt, in der sie leben, soll nicht nur da sein, sondern einen Kosmos darstellen. Dieser griechische Begriff ist ja Programm, er bedeutet einfach Ordnung, also das Gegenteil von Chaos.
Als Wirtschaftswissenschaftler erkenne ich in klassischer und neoklassischer Ökonomik ein Wunschdenken, das nicht vorrangig versucht, eine Erklärung der Wirtschaft zu liefern, sondern sie als sicheres System zu behaupten, modern sogar als System höchst möglicher Wohlfahrt durch Vollbeschäftigung. Zogen die Aufklärer mit dem Argument der ›Natürlichkeit‹ gegen die ›göttliche‹ Ordnung zu Felde, so bekämpften die Anhänger der Klassischen Ökonomik seinerzeit kameralistische und merkantilistische Wirtschaftspolitik mit ihrer Forderung nach einer Wirtschaftsordnung, die einzig der angeblichen Natur des Menschen gerecht werde.
Dabei sind Klassik und Neoklassik, als geistige Kinder der Aufklärung, die die ›göttliche‹ Ordnung durch ihre als natürlich postulierte ersetzen wollten, deren im Kampfe genutzten Behauptungen auf den Leim gegangen. Aufklärer bekämpften die seinerzeit übliche rechtliche Ungleichheit der Menschen unter dem Joch ihrer Obrigkeiten von eines gütigen Gottes Gnaden, indem sie kühn postulierten, der Mensch sei von Natur aus frei und an Rechten gleich geboren. ›Natürlichkeit‹ wie ›Göttlichkeit‹ sind nur menschliche Behauptungen, beide Staatsordnungen sind weder das eine noch das andere, sondern menschlich. So entstand die Naturrechtslehre, die für gleiche Rechte und Freiheit eintritt, mit dem Verweis, alles andere sei wider die Natur. Es wäre ehrlich, aber minder mitreißend, für Freiheit und gleiche Rechte allein mit dem Verweis zu ringen, weil man diese für Grundfeste eines besseren Gesellschaftsmodells hält, statt die Natur zu bemühen, die sich zu Freiheit und Recht nicht äußern kann.
Freiheit und rechtliche Gleichheit sind also Institutionen, die Menschen aufrichten, abschaffen oder auch stets unerreicht verfehlen können. Klassiker und Neoklassiker halten diese Institutionen für natürliche Gegebenheiten, daher ist ihnen ihr Fehlen undenkbar. Dabei mussten in der Weltgeschichte die meisten als Unfreie unbezahlt für ihre Herren arbeiten und ihnen Abgaben leisten. Für Klassik und Neoklassik können Freiheit und rechtliche Gleichheit zeitweise unterdrückt sein, doch ist eine Diktatur erst beseitigt, sind sie wirksam. Von Natur aus, so Klassik und Neoklassik, würden Menschen einander als Gleiche achten.
Nur so ist die Vorstellung vom Menschen – neoklassisch homo oeconomicus genannt – denkbar, der schon in früher Kultur als Jäger und Sammler in jedem anderen Menschen, dem er begegnete, seinesgleichen erkannt haben soll und nicht seinen potentiellen Sklaven bzw. Versklaver. Zwei Menschen begönnen ganz ›natürlich‹ aus ihrer beider unterschiedlichen Vorräte zum gegenseitigen Vorteil zu tauschen (Tauschparadigma).
Wirtschaftswissenschaftliche Dogmengeschichte beschreibt die Entwicklung von Wirtschaftstheorien als typisch aufklärerischen Prozess des Erkenntnisfortschritts. Doch ich will zu beschreiben versuchen, welche Angst zur gedanklichen Konzeption einer steten Tendenz zum verheißungsvollen Marktgleichgewicht in der Klassik und zur Theorie des Allgemeinen Gleichgewichts der Neoklassik geführt haben mag.
Die Wirtschaftspolitik führender Länder hatte seit Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts durch Revolutionen und/ oder Reformen die traditionellen Produktionssysteme beseitigt. Abgabenpflichten und unbezahlte Fron galten nun als Diebstahl. Mit ihrer Arbeitswertlehre stellte die Klassik die Arbeit sogar als einzig Wert stiftende Tätigkeit ins Zentrum, womit Profite aus Monopol oder anderen Privilegien als zu Unrecht erlangte Einkommen (unearned incomes) diffamiert wurden. Die Freiheit der Person und der Arbeitsleistung sowie das Vermögensrecht an Produktionsmitteln wurden weithin eingeführt. Damit entfiel aber auch die Sicherheit des alten Systems.
Wer im alten System Fron und Abgaben wie verlangt nach Kräften leistete, erhielt einen Anteil des Produktes zum eigenen Konsum. Ohne Arbeit und Auskommen war man nie. Gnädig erließ der Herr einzelnen Untertanen, denen ein Unglück die Produktion geschmälert hatte, oktroyierte Abgaben und teilte aus Abgaben anderer eine Überlebensration zu. Diese bot zwar nur ein bescheidenes Auskommen, aber ein sicheres.
An die Stelle von Befehl und Gehorsam als Organisationsprinzipien hatte eine für alle gleichermaßen gültige Rechtsordnung den Vertrag gesetzt, den die jetzt Freien als Instrument zur Koordination ihrer freien Willen brauchen. Verfassungen und dergleichen hatten die Obrigkeit in die Schranken gewiesen, so dass es für gesetzliche Verpflichtungen wie Steuern nunmehr eines Mehrheitsbeschlusses gewählter Vertreter der Freien bedurfte. Jedoch war die Sicherheit fort, eine neue stete Unsicherheit der wirtschaftlichen Existenz wurde den Freien zum unliebsamen Begleiter! Niemand garantiert einem Freien, dass er jemanden findet, der mit ihm einen Vertrag schließt, der ihm ein Einkommen sichert.
Blöss stellt die Idee der stabilen Himmelsmechanik in eine Reihe mit einer Sozialphilosophie, „die die Illusion der Verfügbarkeit der Macht für das Individuum innerhalb der Gesellschaft zu nähren vermag.“ (p. 176) Genau das tut die Neoklassik, weshalb das Publikum sich ihr zu- und von der Klassik in ihrer Krise – etwa ab 1890 – abwandte. Laut Neoklassik bestimmt nicht wie in der Klassik der Kapitalist die wirtschaftlichen Abläufe, sondern dieser ist nur ein Wirtschaftssubjekt unter vielen, die – ein jedes mit seiner Macht – auf Preise, Produktion und Konsum einwirken. In demokratisch verfassten Staaten, wo alle Individuen politisch bestimmen, muss die Neoklassik populär sein, die jedes Individuum als Subjekt der Wirtschaft definiert. Diese Vorstellung, so Blöss, schmeichelt dem menschlichen Ego mit seinem Anspruch, auf alles einwirken zu können (Allmachtsanspruch).
Jede Divergenz zwischen dem neoklassisch gedachten stationären Ein-Perioden-System mit Allgemeinem Gleichgewicht und einer Wirtschaft, die um stets nur temporär haltbare nominale Gleichgewichte ohne Volleinsatz aller Ressourcen ringt, muss abgelehnt werden. Blöss stellt dar (p. 179), wie die reale Angst des Individuums vor Geldmangel angesichts fälliger Verbindlichkeiten sich mit einer neurotischen Angst vor dem Verlust seiner eingebildeten Allmacht paart und zum Antrieb im Erwerbsleben wird. Doch „die zur Doktrin erhobene Sozialphilosophie wird der Angst gerecht werden müssen, welcher der unabhängige Privateigentümer ausgesetzt ist,“ (pp. 176seq.) weshalb Klassik und Neoklassik wirtschaftliche Unsicherheit und Unberechenbarkeit am liebsten wegdefinieren. Dazu treffen Neoklassik – und mit Abweichungen z.T. auch die Klassik – folgende Annahmen:
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Menschen haben von Natur aus gegebene unendliche Bedürfnisse und versuchen ihnen stets soweit wie möglich zu genügen.
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Die gegebenen Mengen der verfügbaren Ressourcen sind den Menschen bekannt.
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Zu jedem Zeitpunkt gibt es für die Herstellung eines jeden Produktes nur eine vorab eindeutig als die beste bekannte Technik.
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Menschen stellen einerseits Informationen vollständig zur Verfügung, nehmen sie andererseits zur Kenntnis und bilden sich so rationale Erwartungen von dem Kommenden.
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Das im neoklassischen Ein-Perioden-Modell stets erreichbare Allgemeine Gleichgewicht ist auch in der im Zeitkontinuum laufenden realen Wirtschaft zu erwarten.
Dazu haben Klassiker und Neoklassiker ihren Wirtschaftstheorien den Ansatz Jean-Baptiste Says eingegliedert, wie Stadermann herausgearbeitet hat. Say hatte etwas Banales behauptet: Wenn alle Leistungen (Arbeit, Zulieferungen etc.), die zum Einsatz kommen, so entlohnt würden, wie es ihrem vorbestimmt gedachten Wert entspricht, dann könnten diese Leistungen sich durch Produktion umgeformt nur in einen Ausstoß an Produkten wandeln, der im Werte den Einsätzen gleich sein müsse. Also schaffe sich jedes Angebot durch Entlohnung der Einsätze seine gleichgroße Nachfrage.
Jedoch sagt Say nicht, dass alle vorab verfügbaren Einsätze auch zur Produktion herangezogen würden. Er sieht die Möglichkeit eines Gleichgewichtes von produziertem Angebot und Nachfrage aus Entlohnung, das keine volle Nutzung aller verfügbaren Einsätze – auch keine Vollbeschäftigung der Arbeit – einschließt. Das musste bei Klassikern und Neoklassikern die Angst belassen, dass das von ihnen verfochtene, neue System nicht allen ein sicheres Auskommen böte.
Mit Annahme 1 behaupten Klassiker wie Neoklassiker daher, Menschen seien auf größten Profit bzw. Nutzen aus. Sie könnten gar nicht anders, als stets alle verfügbaren Ressourcen zur Produktion einzusetzen und alle dabei erzielten Einkommen vollständig auszugeben, so dass jedes erzeugte Angebot stets willige und vollständige Nachfrage finde, ohne Gefahr von Überproduktion und mangelndem Absatz. Die Freiheit, nicht alles auszugeben, also finanziell mögliche Verträge auszuschlagen, liegt laut Klassikern und Neoklassikern nicht in der – polemisch gesprochen – unersättlichen menschlichen Natur. Die Beweislast für ihre Behauptung schieben sie den Anthropologen zu.
Mit nur einer besten Technik und bekannten Ressourcenmenge (Annahmen 3 und 2) brauchen die Menschen nur noch auszuprobieren, welche Kombination der diversen Einsätze den Höchstausstoß für eine Anlage erbringt. Die verbliebenen Ressourcen verwende man für eine andere Produktion, wieder bis zum Maximum usw., bis alle Ressourcen im Einsatz sind. Gerade so, als ob einzelne Produktionen wie ein einziger gegebener Typ von Auto funktioniere, und es nur herauszufinden gelte, was an Räderzahl, Reifendruck, Motoren, Motoröl, Lackschichten oder Insassen die höchste Fahrleistung (Ausstoß) für eine bestimmte Strecke (Produkt) ergibt. Dass Wirtschafter laufend andere Autotypen und sogar Vehikelarten sowie neue Ziele entwickeln und mit Glück bei Bedarf neu erfinden können, muss die Neoklassik ausschließen, denn sonst wären ihre in Ein-Perioden-Modellen vorgestellten Gleichgewichte entgegen der Annahme 5 nicht auf die Realität übertragbar.
Dass der Volleinsatz aller Ressourcen, geeigneter wie ungeeigneter, deren Verschwendung bedeuten kann, weil die Erzeugung gar niedriger ausfallen kann, als bei Konzentration auf die bestgeeigneten, blendet die Neoklassik wie der Ostblocksozialismus in seiner Tonnenideologie (mehr Einsatz = mehr Produkt) aus. Dass westliche Wirtschaften – meist bei Unterbeschäftigung der Arbeitskräfte und anderer Ressourcen – mehr produzierten als zur gleichen Zeit der Ostblock bei Vollbeschäftigung, ficht die Neoklassik nicht an. Sie kann nicht erkennen, dass die Produktion im westlichen Wirtschaftssystem nur deswegen höchste Mengen und Qualitäten erreicht, weil unbenötigte und ungeeignete Ressourcen – auch Arbeitskraft – eben ungenutzt bleiben. Ließe die Neoklassik diese Einsicht zu, müsste sie die systemische Möglichkeit von Arbeitslosigkeit, die Unsicherheit der Einkommen aus Arbeit, einräumen, sie gar als wirtschaftlich sinnvoll und möglich deklarieren.
Der Neoklassik geht durch ihre Vorstellung einer sicheren stationären Wirtschaft ein Verständnis für wirtschaftliche Dynamik ab. Denn diese rührt ja daher, dass Unternehmen wegen unsicherer Zukunft unvorhersehbare Entwicklungen anstoßen, indem sie bislang ungenutzte Technik überraschend erfolgreich zum Einsatz bringen oder neue erfinden und bislang ungenutzte Stoffe dank Innovation als Ressource einsetzen. So geraten etablierte Ressourcen als veraltet außer Gebrauch und ihr vorher mit Untergangsstimmung als knapp erachtetes Angebot übertrifft die auf nostalgische Verwendung gefallene Nachfrage.
Das reale wirtschaftliche Problem besteht darin, dass Wirtschafter entscheiden müssen, ob, was, und mit welcher Technik sie produzieren wollen, dann, wie das vorzufinanzieren ist, und schließlich, wie die investierte Summe um Zinsen und Margen erhöht durch Verkauf des Produkts wieder erlöst werden kann. Dabei laufen Unternehmen stets Gefahr, dass ein anderes eine bessere Technik, ein begehrteres Produkt hervorbringt, und die tatsächlich erzielten Erlöse am Ende nicht reichen.
Dass gelegentlich erzeugte Güter Ladenhüter und andere umgekehrt überkauft würden, hielt Say für ein vorübergehendes Problem. Hersteller von Ladenhütern, so Say, würden auch mal Gefälliges anbieten, das sich zu überhöhten Preisen verkauft, und so die Verluste bei Ladenhütern ausgleicht. Die Neoklassik definiert auch diese Quelle beängstigender Unsicherheit mit Hilfe der Annahme 4 weg. Durch vollkommene Information und rationale Erwartungen müsse niemand je den Geschmack der Kundschaft verfehlen. Vorkommende Zielverfehlungen erschüttern nicht Annahme 4, sondern sind unvollkommenen Informationssystemen geschuldet, deren Perfektionierung sicher erwartet wird. Bei gravierenderer Verfehlung des Allgemeinen Gleichgewichts mit Vollbeschäftigung unterstellt die Neoklassik menschlichen Irrtum oder bösen Willen, haben Menschen wider ihre Natur Restriktionen geschaffen.
Das zentrale wirtschaftliche Problem der Realität ist, dass ein Hersteller heute verkaufen muss, was er in der Vergangenheit produziert und finanziert hatte. Die aus der Finanzierung in der Vergangenheit angefallenen Einkommen haben die Käufer längst für Konsum oder Investition ausgegeben. Heutige Käufe tätigen sie v.a. mit gegenwärtig erzielten Einkommen und Renditen, die im laufenden Produktionsprozess verdient werden. Nichts garantiert aber, dass heutige Einkommen genügen, um Güter aus voriger Produktion überhaupt zu denjenigen Preisen zu kaufen, die den Herstellern die nötigen Erlöse einbringen.
Die wirtschaftliche Realität findet in einem Zeitkontinuum statt, wo laufend Schulden unterschiedlicher Laufzeiten fällig werden und zu bedienen sowie schließlich zu tilgen sind. Geld, das eine Notenbank als Kredit auszahlt, also in Umlauf setzt, wird durch Tilgung an diese wieder außer Verkehr gezogen. Heute fällige Schulden sind mit Erlösen zu tilgen, die sich aus gegenwärtig aufgenommenen, Geld schaffenden Krediten an Schuldner speisen, entweder direkt durch deren Käufe oder über den Umweg der von ihnen als Arbeitgeber gezahlten Einkommen, die deren Bezieher dann ausgeben.
Dessen ungeachtet zerschlägt die Neoklassik für ihr Modell das real existierende Zeitkontinuum. Sie denkt in einzelnen abgeschlossenen Wirtschaftsperioden, in denen keine Erfüllungen vereinbarter Verpflichtungen (z.B. Leistung/Lieferung) durch einzelne Parteien anfallen, während zugehörige Erfüllungen der anderen Partei (Zahlung z.B.) in frühere Perioden fielen oder in spätere fallen sollen. In den neoklassisch geschlossen gedachten Perioden fällt die aufgenommene Investitionssumme bei Lieferanten von Arbeit und anderen Ressourcen als Einkommen an, das diese dann wiederum noch in der gleichen Periode vollständig zum Aufkauf des gesamten Produktes eben dieser Periode für ihre unendlichen Bedürfnisse ausgeben.
Der Erfolg der Neoklassik liegt nicht darin ein Modell vorstellen zu können, das die reale Wirtschaft gut erklärt, sondern genau das zu präsentieren, was das Publikum hören will: Die Unsicherheit der wirtschaftlichen Realität existiere in Wahrheit nicht. Mit dem festen Glauben an ein beruhigendes Wunschbild der Wirtschaft kann aufkeimende Angst dann immer wieder weggedrückt werden, jedoch um den hohen Preis vor der Realität die Augen fest verschlossen halten zu müssen.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts Publikum und nachwachsende Fachwelt ihre Gunst der klassischen Ökonomik entzogen und sich der Neoklassik zuwandten, geschah dies wohl auch vor dem Hintergrund von Ängsten, wie Stadermann herausgestellt hat. Diese Ängste waren sowohl theoretischer, wie auch konkreter Natur. Karl Marx analysierte, dass der Wettbewerb um knappe Stellen die Löhne auf das Existenzminimum, den so genannten Reproduktionslohn, herabpresse, obwohl sie nach klassischer Arbeitswertlehre eigentlich genau den erarbeiteten Werten entsprechen sollten. Kapitalisten verkauften das Produkt der Arbeit dann zu seinem wahren Wert und erzielten so unverdient den Mehrwert, die Differenz aus Verkaufserlös und Summe der Reproduktionslöhne. Marxens Aufdeckung ließ das klassische Wunschbild von der allen gerecht werdenden Wirtschaft beängstigend wanken.
Marx charakterisierte Kapitalisten als Herren, deren Herrschaft auf Eigentum an Produktionsmitteln beruhe, weswegen dieses aufgehoben werden müsse. Das Bürgertum fühlte sich dann von politischen Agitatoren bedroht, die die Abschaffung seiner Eigentumsrechte forderten – also ausgerechnet dasjenige Recht, das doch im bestehenden System das Einzige war, was Sicherheit vor Armut gab. Wenn Eigentum es Kapitalisten ermöglichte, dem Arbeiter vom Lohn den Mehrwert vorzuenthalten, so war mit Argumenten der Klassik den Forderungen nach Eigentumsabschaffung kaum entgegenzutreten. Wie die Klassik dem Ende des alten Produktionssystems mit unbezahlter Arbeit das Argument geliefert hatte, so delegitimierte sie jetzt die von ihr befürwortete neue Ordnung der freien Wirtschaft.
Hier bot die Neoklassik eine Lösung. Sie verwarf die Arbeitswertlehre objektiver Werte und postulierte stattdessen die Nutzenwertlehre, wonach Käufer und Verkäufer von Arbeitsleistungen – wie anderer Güter auch – diese nach ihrem subjektiv angenommenen Nutzen bewerten. Vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen Lohn, dann kann der niedrig sein, wenn beide keine Möglichkeit sehen, mit dem Einsatz der damit bezahlten Arbeit mehr Nutzen zu stiften, als dieser niedrige Lohn eben ausdrückt. Fänden Arbeiter oder Arbeitgeber eine nützlichere Einsatzmöglichkeit, würden sie die Arbeit mit entsprechend höherem Lohn anders einsetzen.
So, denke ich, besteht ein starker Antrieb, ja gar ein Lustgewinn, die neoklassische Ökonomik als eine Theorie des Allgemeinen Gleichgewichts zu beschreiben, während es ja genau daran in der realen Wirtschaft mangelt. Und ich erinnere mich, wie Professoren uns Studenten mit Begeisterung das reibungslose Funktionieren des neoklassischen Modells auseinandersetzten. Ein Enthusiasmus, der all jene ansteckte, die diese Theoriewelt internalisierten und die Widersprüchlichkeit der Realität als bald überwunden erachteten. Auch auf weitere Kreise, zumindest wenn sie sichere Stellen innehaben oder bald zu erreichen erwarten, wirkt die Neoklassik wie eine Verheißung. Meine These, Klassik und Neoklassik seien entwickelt worden und würden verteidigt und geschätzt, weil sie eine die Psyche befried(ig)ende Angstbewältigung bieten, ist durch eine Arbeit wie dieses Buch noch zu untermauern und mit Selbstzeugnissen der Vertreter dieser Schulen zu belegen.
Blöss zeigt, dass mein Ausgangspunkt verkehrt war. Typisch für unser wie das antike Wirtschaftssystem ist, dass Wirtschafter im je eigenen kulturellen Kontext alles aufgreifen und weiterentwickeln, was sie an Möglichkeiten vorfinden, um im Wettbewerb zu bestehen. Technik und Naturwissenschaft sind aber kein Ausfluss des Wirtschaftssystems mit Eigentum an den Produktionsmitteln, sondern der Kultur der Aufklärung. Dabei nennt Blöss Naturwissenschaft die Ausrichterin und Verwalterin moderner Denkstrukturen, für die es mit ihrem unangemessenen Wahrheitsanspruch, in der Absicht Angst zu bewältigen, symptomatisch sei, immer neue Ängste hervorzubringen (p. 102). Aber Blöss geißelt wissenschaftliches Denken nicht, er dechiffriert es und zeigt, dass es wegen steter Erzeugung neuer Ängste, die ja stets neuen Antrieb liefern, kein Ende findet.
Blöss verfasste verschiedene Werke, manche zusammen mit Niemitz, u.a. zu Fragen der chronologischen Wissenschaften, der Entwicklung der Arten etc. (siehe Schriftenverzeichnis p. 259). Niemitz wiederum – mit dem scharfen Verstand eines Ingenieurs – arbeitete in den letzten Jahren viel im Bereich der Gesellschaftstheorie, indem er Ethik erklärte, sowie Recht, Verpfändung und besitzlose Pfandnahme eindeutig definierte, wobei er und ich oft diskutierten und ich viel lernte. Ich habe Niemitz über Blöss kennengelernt und seine Beharrlichkeit und seine Begriffsschärfungen eröffneten mir viel klarere Blicke auf mein eigenes Fach.
Gunnar Heinsohn siedelte die Entstehung abstrakten Denkens im Kontext der Gesellschaften freier Eigentümer an, ein Gedanke, den Niemitz aufnahm. Er meinte, Menschen entwickeln solches Denken, wenn sie sich eine Rechtsordnung gegeben haben und genötigt sind, eine Ethik zu entwickeln, wie Dilemmata im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtsordnung zu lösen sind.
Berlin, 19. Dezember 2012
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Ulf Heinsohn
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Hat Aufklärung überhaupt schon begonnen?
Vorwort von Gunnar Heinsohn zur 1. Auflage (1987)
»Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt« (1), warnen Max Horkheimer (1895-1973) und Theodor W. Adorno (1903-1969) im Jahre 1947. »Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht« (2), fügen sie dunkel hinzu und dieser Prozess sei im Gange, seit im 7. Jahrhundert v.u.Z der homerische »Übergang zur olympischen Religion« (3) erfolgte.
Gewaltige Sätze dies und nicht ohne Auswirkungen auf leserliche Neugier. Wie sah dieser Sinn in vorhomerischer Zeit wohl aus? Was gab es an Religion, bevor der Himmel seine familienorientierte „Hierarchie“ (4) bekam? Und wieso überhaupt ein vorher und dann ein ganz anderes nachher? Die Autoren bemühen sich durchaus um Antworten: der „Tauschende“ (5) wird als Sinnzerstörer und Wissenschaftsschöpfer dingfest gemacht, obwohl der im angegebenen Zeitraum doch gerade die historische Bühne Griechenlands räumt und dem zinsbelasteten Kreditnehmer weicht. Da wird also von den Frankfurtern bloß marxologisch schwadroniert. Das soll hier aber nicht überbewertet werden, da selbst die besten Fachleute bis heute diese umstürzende Neuerung, die sie allerdings immerhin richtig benennen, nicht verstehen können: »Die Umstände, unter denen Kredite zu einer so mächtigen Maschine werden, sind mysteriös.« (6)
Die Frankfurter aber finden auch zu eigenwilligeren Sätzen. Ein Schritt weg von der »realen Übermacht der Natur« (7) sei damals getan worden, »vom Chaos zur Zivilisation« (8) sei man vorangegangen. Daraus wird dann aber nicht viel gemacht, weil sich dieser Schritt autonom im Kopf des „Tauschenden“ abgespielt haben soll, dessen wahres alter ego als Verschuldeter aber doch erst einmal von irgendwoher gekommen sein muss. Warum war er nicht – sagen wir – bereits vor 800 oder 1.100 v.u.Z. da? Warum tritt er erst nach dem 8. Jahrhundert v.u.Z. in die Welt? Oder in den Worten der Kritischen Theorie: warum beginnt die »Bahn der Entmythologisierung, der Aufklärung, die das Lebendige mit dem Unlebendigen ineins setzt wie der Mythos das Unlebendige mit dem Lebendigen (9) erst jetzt? Was sind das für Leute, die als Grund des Mythos (…) seit je den Anthropomorphismus, die Projektion von Subjektivem auf die Natur aufgefasst« (10) haben? Warum konnten denn erst die Aufklärer und Entmythologisierer sagen, dass Götter menschengemachte Wesen seien und nicht bereits ihre Väter oder Großväter? Und was war das für ein „Unlebendiges“, das auf diese Vorfahren wie „Lebendiges“ wirkte? Tauschende, hypergescheite Söhne, „Zivilisierte“ (11) dort, aber der „Zauberer“ (12) und seine „bescheidenen Jagdgründe“ (13) hier?
Man sieht, die Herren drehen sich im Kreis: entweder wird der Tauschende vorausgesetzt und damit die entscheidende Erklärung unterlassen, wie die stattdessen wirklich aufkommenden Privateigentümer in die Geschichte treten oder es wird scheingescheit vom Abschaffen der Zauberei geredet, obwohl in Wirklichkeit erst einmal allerhand geschaffen worden sein muss, bevor es dann abgeschafft werden kann. Dieses in der Bronzezeit Geschaffene – Priester, Opfer, Götter, Tempel und schließlich Könige –, das in der griechischen Polis zurückweicht – und im jüdischen Monotheismus beinahe schwindet –, hat ja selbst eine erste historische Stunde und damit besondere Gründe, die kennen sollte, wer über ihr Hinfälligwerden etwas aussagen möchte. So unverstanden wie dieser Beginn, der in Zauberei schon gar nicht aufgeht, so rätselhaft bleibt denn auch das die Aufklärung bringende Ende. »Das Zeitalter des Opfers« (14), wie Hinduhistoriker jenes Zeitalter nennen, dem bei Horkheimer und Adorno entmythologisierende Tauscher ein Ende machen und das in der akademischen Geschichtswissenschaft als Bronzezeit firmiert, bleibt den Frankfurtern, die doch dem Mythos Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, vollkommen mysteriös. Dennoch lassen die beiden ganz unbestreitbar etwas davon spüren, dass mit entzaubernder Aufklärung der Mythen zu bloßen Phantasieprodukten der Alten ein Stück weittragender Menschheitsgeschichte verdrängt wird und dass dafür ein Preis bezahlt werden muss.
Springen wir gleich vier Jahrzehnte voran. Im Jahre 1986 veröffentlichte der eigentliche Fortsetzer der Kritischen Theorie – der 1927 geborene Berliner Religionswissenschaftler Klaus Heinrich – seine Vorlesung „anthropomorphe“. Auch er stellt sich dem Problem, warum damals chaotische Götter schwinden oder doch wenigstens menschenartig gebildet werden (15). Dass damit keine kleine Aufgabe umrissen ist, haben 10 Jahre zuvor noch einmal die Herausgeber der Werke des ungemein spürsinnigen Opferforschers Karl Meuli (1891-1968) betont. Auch dieser nämlich »ist der Frage nachgegangen, warum die Griechen um 750 v.Chr. begonnen haben, Statuen zu schaffen und große Tempel zu bauen, in denen die Statuen (= die Götter) wohnen können – Fragen also, die abgrundtief sind« (16).
Was führt nun Klaus Heinrich fürs Verschwinden der statuenlosen Chaosgötter an? Vermag er aus der Blockade herauszufinden, in die sich seine Lehrer hineinmanöveriert haben? Keineswegs! Ausschließlich mit Formeln der Verlegenheit wie „Entwicklung“, „Fortschritt“, „eines Tages“ (17) usw. wird jene Epochenschwelle eingenebelt, die wir gerne ganz genau sehen würden. Das ändert aber nichts daran, dass er zumindest das Gespür der Frankfurter für Vergangenheitsereignisse größter Tragweite eisern festhält. Dass Aufklärung ohne Kritik an dem Herausschlagen dieser Ereignisse nicht vorankommen kann, hat keiner deutlicher als Klaus Heinrich immer wieder hervorgehoben. Allein diese Haltung sichert ihm in der Ehrenhalle des bundesdeutschen Nachkriegsdenkens den verdienten Platz. Die übrigen Philosophen, Soziologen, Religionsforscher usw. haben nicht einmal zur Verwirrung der Probleme beigetragen. Und das gilt besonders dort, wo man sich als Enkel Max Horkheimers zum Sozialphilosophen stilisiert und doch nur Axel Springers Aufkleber „Seid nett zueinander“ zum ahnungslosen Wunsch variiert:
Kommuniziert in Politik und Betrieb
doch bitte auch wie zuhause so lieb.
Das würde noch hingehen, wenn der Zweizeiler nicht gleich auf zwei Bände von fast 1000 Seiten aufgebläht worden wäre, denen dann auch noch ein Ergänzungsband folgte.
Wie lässt sich nun darüber etwas herausbekommen, was in den philosophischen und naturwissenschaftlichen Denksystemen aus Antike und Neuzeit verdrängt wird. Zur Beantwortung dieser Frage muss nicht einmal in die Werke derer geschaut werden, deren wirkliches Rühren am Verdrängten sie sofort unter schwersten akademischem Beschuss brachten. Sie sollen hier aber nicht ungenannt bleiben. Ein Jahr nach der „Dialektik der Aufklärung“ erscheint bei Oxford University Press Claude F.A. Schaeffers (1898-1982) „Stratigraphie comparée et chronologie de l’Asie occidentale (IIIe et IIe millénaires)“. Frankreichs größter Archäologe war bis 1918 noch reichsdeutscher Elsässer gewesen und 1940 nach England geflohen, wo er erfolgreich an der Entzifferung deutscher Marinecodes mitwirkte und am St. Johns College seinen lang gehegten Verdacht vertiefen konnte, dass die Bronzezeit durch eine Serie schwerster Katastrophen gekennzeichnet gewesen ist. Ein Vergleich zahlreicher Ausgrabungsberichte führte zur Ermittlung von – in den ältesten Siedlungen – maximal fünf bis sechs Zerstörungsschichten, die gleichzeitig und über tausende von Kilometern hinweg – also für jedes Erdbeben zu umfassend – durch »nicht menschliche Handlungen verursacht« (18) worden waren.
Mit diesem Befund war den Berichten über am Himmel kämpfende oder sich disaströs liebende Götter, wie sie die Mythen bestimmen, ein irdisches Unterfutter geliefert worden. Was die Entmythologisierer als phantastische Allegorien beiseiteschieben wollten, war durch eine Kette von Katastrophen, die mit dem Beginn der Bronzezeit einsetzte und an ihrem Ende aufhörte, archäologisch plausibel gemacht worden. Weitere zwei Jahre später veröffentlicht Immanuel Velikovsky (1895-1979) seinen Versuch, die kosmischen Szenarien der Zerstörung aus den Mythen zu rekonstruieren. Mit „Welten im Zusammenstoß“ von 1950 aber setzt umgehend die im wesentlichen mit Scharlatanerievorwürfen arbeitende Abwehr der Universitäten ein. Sie schiebt auch Schaeffers Buch – bei Fortbenutzung seiner anderen Arbeiten – unaufhaltsam mit ins Abseits.
Wer nun Angst vor diesen Pionieren hatte, mit ihnen lieber nicht zusammen gesehen werden wollte, hätte sich aber auch bei einem anderen bedienen können. Moses Finley (1912-1986) – anerkannte altertumswissenschaftliche Weltautorität und selbst einmal Mitarbeiter Max Horkheimers in New York – hatte über die der Aufklärung vorhergehende Bronzezeit bereits 1970 deutliche Auskünfte gegeben: »In regelmäßigen Abständen ereigneten sich Katastrophen, daher die fünf Schichten, die sich deutlich voneinander abgrenzen.« (19) Und: »Ihr Ende erfolgte jäher als die meisten Zusammenbrüche vergangener Kulturen. Von Thessalien im Norden bis Lakonien im Süden wurden mindestens ein Dutzend Burgen und Palastanlagen vernichtet. (…) Die mykenische Gesellschaft hatte ihre führende Schicht verloren. Die Übriggebliebenen gingen mit den Neuankömmlingen gemeinsam an den Aufbau einer neuen Gesellschaft.« (20)
Noch einmal hat es also schrecklich geknallt und Revolution ist gemacht worden – und das ist nun schon etwas anderes als „eines Tages“ oder „Entwicklung“ etc. Wenn auch Finley selbst – aus hier nicht behandelbaren Gründen – an einer Erklärung der neuen Gesellschaft von Privateigentümern scheitert und über die Gründe der zuvor dominierenden Opfer, Priester und Götter schon gar nicht nachdenkt (21), hätte doch jeder Forscher über die Entstehung der Mythen und über ihre Auflösung durch Aufklärung hier fündig werden können.
Für den unvoreingenommen Sucher jedoch liegen die entscheidenden Informationen seit nunmehr bald vier Jahrzehnten vor. Horkheimer und Adorno sind dabei zu exkulpieren, weil sie ihre unbeantworteten Fragen eben vor Schaeffer und Velikovsky gestellt haben. Alle danach schreibenden Autoren, denen die epochalen Arbeiten von 1948 und 1950 nicht einmal eine Erwähnung wert sind, beteiligen sich am Verdrängungsprozess, den die Wortführer der Frankfurter Schule doch durchbrechen wollten. Selbst ein so nobles Wort wie das von der Aufklärung des »Verdrängten der Philosophie« (Klaus Heinrich) verliert vor diesem Hintergrund an Flair. Dasselbe Urteil gilt selbstredend für die Arbeiten Horkheimers und Adornos, die nach 1950 geschrieben wurden.
Ganz anders aber steht es um Walter Benjamin (1892-1940). Er ist – wohl ganz kurze Zeit vor seinem Selbstmord auf der Flucht vor deutschen Greifern – an den Übergang vom blutigen Opfer der Bronzezeit zur Zinsenbedienung in der abendländischen Zivilisation sehr nahe herangekommen. Echte, also auf umfassendes Wissen wirklich hinsteuernde und doch diese Wahrheit noch nicht fassen könnende Ahnung führt ihm bei seiner neunten geschichtsphilosophischen These die Hand: »Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind weit aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken zukehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« (22)
Während der zinsbelastete Kredit als bisher unbekannter historischer Treibsatz für eine ganz neue Dynamik sorgt, hat der Engel, wie in biblischer Sprache die kosmischen Katastrophenbringer heißen, seinen Flug tatsächlich noch nicht beenden können. Er wirkt nach, obwohl doch schon der um 750 v.u.Z. Prophet werdende Jesaja ausrufen konnte: »Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie wurdest du zu Boden geschlagen, der du alle Völker niederschlugst!« (23) Die sich nach dem Sturz des Engels vom Zeitalter des Opfers und seiner priesterlichen Hierarchie freimachen wollen, gehen sehr schnell dazu über, die Ereignisse jener Zeit, welche die Priester auch als zukünftige Legitimation noch in Anspruch nehmen wollen, schlichtweg abzustreiten. Es beginnt die Aufspaltung in Verdrängung der Vergangenheit und in ihre apokalyptische Verkündigung als bald zu erwartendes Jüngstes Gericht, bei dem die Priester dann doch wiedergebraucht würden. So wuchern bis heute millenaristische und antisemitische – also gegen die Opferüberwindung ankämpfende – Massenbewegungen, in denen die panischen Ängste, die in der Bronzezeit einmal berechtigt waren, durch katastrophengesättigte Texte und daraus gezogene Predigten lebendig gehalten werden. Der von ihnen gesuchten – und für die nicht Mitbewegten gefährlichen – Erregungsabfuhr kann kaum entgegengetreten werden, solange die Vergangenheit nicht eingestanden, sondern als höchst merkwürdiges Beieinander von stetigen, naturfriedlichen Entwicklungen und menschengemachten Phantasmen und Allegorien gelehrt wird. Die apokalyptischen und somit angstgeladenen Wünsche nach Weltzerstörung werden auf diesem Wege nicht aufklärbar. Wo immer sie agitatorisch angeheizt werden, können ihnen die vergangenheitsverdrängenden Aufklärer nur in hektischer Hilflosigkeit begegnen. Typisch in jüngster Zeit ist dafür der erbitterte Zwist zwischen Kreationisten, denen die Katastrophen der Vergangenheit als Tat ihrer Gottheit gelten und den akademischen Evolutionisten, die eine solche verständlicherweise nicht glauben können, aber sich alleine dadurch schon berechtigt fühlen, bei der Gegenposition, die doch auf verrückte Weise ein Stück Vergangenheit festhält, nichts als bodenlosen Aberglauben erkennen zu können. Benjamins Versuch, den Engel erst einmal ernstzunehmen und sich über ihn ein – wenn auch noch dunkles – Bild der Geschichte zu machen, reichte da weiter.
Die Aufklärung hat fast alles noch vor sich und von ihrer Vergeblichkeit sollte nicht gesprochen werden, solange sie nicht wirklich begonnen hat. Dass sie nicht gänzlich in einer Stunde Null steht, ist auch Christian Blöss zu verdanken. Sein „Venus-Report“ (Basel 1983) darf als kleines Meisterwerk zum größten der Engel gelten. Von seinem „Darwin-Report“ (Basel 1986) ist kaum geringer zu sprechen. Die nachfolgende Arbeit „Maschinenkinder“ sollte ebenfalls einmal als Stück jener Arbeit gelten, deren Beginn Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1947 so berechtigt und doch so folgenlos eingeklagt haben.
Bremen, 1. Februar 1987
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Gunnar Heinsohn
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Einleitung
„Entropie“ revisited
Einleitung des Autors zur Neuausgabe (2013)
„Maschinenkinder“ war mein erstes Buch, welches zwischen 1983 und 1986 entstand. Rasch galt es mir als eine Art Jugendsünde, die mir am Ende allein deshalb nicht verziehen werden musste, weil sich seine 1. Auflage von 1987 sang- und klanglos abverkaufte und der Verlag auch keine Anstalten machte, eine Neuauflage in die Wege zu leiten. Im Folgenden möchte ich beleuchten, wieso es am Ende dennoch zu dieser Neuausgabe gekommen ist.
Die Entstehung der zentralen These dieses Buches, dass die naturwissenschaftliche wie auch die technische Bemühung eine kollektive – und deswegen geachtete statt geächtete – Form der Angstbewältigung im freudschen Sinne sei, war auf vielschichtige Weise mit dem wichtigsten Projekt meiner wissenschaftlichen Laufbahn verwoben: einer Destruktion der Grundlagen der aktuellen Wärmelehre zugunsten einer erweiterten Theorie der Wärme, die vorzugsweise auch diejenigen effektiven Verfahren der Energietechnik beschreiben sollte, die bisher kompromisslos – weil „naturnotwendig“ – als unmöglich angesehen wurden. Dabei ging und geht es nicht um ein Perpetuum mobile, sondern letztlich um Innovationen in der Materialtheorie.
Intensiv verfolgte ich dieses Projekt gemeinsam mit Freunden zwischen 1982 und 1986. Während einige von uns dann mit Hilfe privater Fördergelder an einer konkreten Umsetzung arbeiten konnten, nahm ich aufgrund unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten eine Auszeit, allerdings ohne eine Idee zu haben oder zu entwickeln, wie ich jemals meinen eigenen Weg in dieser Angelegenheit weiter und zu Ende gehen könnte.
Anfang 2007, also rund 20 Jahre nach meinem „Ausstieg“, versetzten mich günstige wirtschaftliche Umstände in die Lage, das Projekt „Kritik der Wärmelehre“ neuerlich auf die Agenda setzen zu können, diesmal mit der Absicht, die Frage nach der Natur von Entropie und ihrer Messbarkeit unabhängig vom „Zweiten Hauptsatz“ beantworten zu können. Gute drei Jahre später, im Sommer 2010, legte ich meine Schlussfolgerungen mit dem Buch „Entropie“ vor (siehe letzte Seite): Die Entropie eines Systems entspricht der in ihm enthaltenen Lichtmenge und bemisst sich konsequenterweise nach der Anzahl in ihm enthaltener Lichtquanten.
Von Beginn meines Studiums an war ich mir sicher gewesen, dass die fundamentale Kritik der Wärmelehre nicht nur sachlich gerechtfertigt, sondern durch das Berufsethos eines Physikers auch elementar geboten war – nicht zuletzt angesichts der seinerzeit lodernden Auseinandersetzung um die „friedliche Nutzung der Kernenergie“. Und von Beginn an erschien mir die teils bizarre Ausformung des wissenschaftlichen wie auch des gesellschaftlichen Diskurses zu diesem Thema als ein unmissverständlicher Hinweis, dass eine fundamentale Kritik der Wärmelehre aus psychologischen Gründen ausgeblieben war, ja regelrecht verweigert wurde.
Eine traurigen Höhepunkt in dieser Sache erlebte ich als junger Student im Gespräch mit dem Gutachter zu einem unserer Forschungsvorhaben, dessen öffentliche Förderung wir beantragt hatten. Dieses Vorhaben bezog sich auf die Untersuchung von Rotationsbandenspektren mit dem Ziel, geeignete Arbeitsstoffe für Wärmekraftmaschinen aufzufinden.
Es gab ein abschließendes Gespräch, das eigens für eine Aussprache über das (negativ ausgefallene) gutachterliche Urteil anberaumt worden war. Der Beamte, der unseren Antrag auf Forschungsförderung bearbeitet hatte, wollte von dem Gutachter wissen, ob die von uns erhofften Forschungsergebnisse nützlich sein könnten, falls unsere Annahmen – rein hypothetisch gesehen – stimmen würden. Mit dem Hinweis, dass unsere Annahmen unsinnig seien, verweigerte der Gutachter auch auf mehrfache Nachfragen jede Antwort.
Angesichts solchen Widerstands erschien es mir nur logisch, diesen auch durch einen Versuch zu überwinden, seine Unangemessenheit psychologisch zu erklären. Stand nicht spätestens seit der Veröffentlichung der Studie von Thomas S. Kuhn über die „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ unübersehbar im Raume, dass eine jede wissenschaftliche Disziplin fundamentale Kritik „aushalten“ muss? Musste man nicht davon ausgehen, dass einer jeden Theorie irgendwann ein Paradigmenwechsel ins Haus stand? Ein Paradigmenwechsel, der nicht nur bisherige Befunde unter einem völlig neuen Blickwinkel zu erklären vermochte, sondern darüber hinaus auch die Grenzen des Möglichen hinwegfegte und Platz für Befunde machte, die bis dahin „naturgemäß“ ungedacht geblieben waren oder die man nicht für möglich gehalten hätte bzw. – wie im Falle der Wärmelehre – ausdrücklich nicht für möglich gehalten hatte.
War die permanente, gleichsam kollektiv organisierte Ausgrenzung von Kritik nicht als Indiz zu werten, dass bestimmte Auffassungen höher im Kurs standen als der elementare Anspruch, ihre Genese aufzuklären und damit ihre Wertigkeit besser einschätzen zu können? Zur Frage, was das Motiv oder der Antrieb für diese „Verweigerungshaltung“ sein könne, war es nur noch ein kleiner, sich logisch anschließender Schritt. Das Ergebnis meiner damaligen Überlegungen zu dieser Frage liegt mit diesem Buch erneut vor.
Die Hybris meines Twen-Dezenniums begann irgendwann dahinzuschmelzen. Weder war mir ein Durchbruch bei meinen Forschungen gelungen, noch hatten meine Überlegungen zum psychologischen Hintergrund des modernen Wissenschaftsbetriebes irgendeinen Beitrag leisten können, diesen für meine Fragestellung offener zu machen. So schwappte der Ozean des Zweifels, in den ich die „anderen“ einzutauchen bestrebt gewesen war, letztlich über mir selbst zusammen. Für gut 20 Jahre sollte das Thema Wärmelehre für mich gestorben sein und das Buch „Maschinenkinder“, mit dem ich die zugrundeliegenden Antriebe meiner „Widersacher“ gewissermaßen zu entlarven versucht hatte, geriet mir zum Echo einer untergegangenen Ära des Aufbegehrens und eines donquichottesquen Kampfes, der so nicht zu gewinnen war.
Diese Darlegungen wären unvollständig, würde ich nicht auch das zweite „große Thema“ ins Spiel bringen, das mich seinerzeit auch deswegen so intensiv beschäftigt hatte, weil ihm mit ähnlich radikaler Ablehnung und Ausgrenzung begegnet wurde, wie ich es im Hinblick auf die Kritik des „Zweiten Hauptsatzes“ erlebt hatte. Dabei ging es um katastrophische Agenten der Natur- und Menschheitsgeschichte, ein Thema, das mit dem Siegeszug der Evolutionstheorie in die Obhut weniger „Außenseiter“ geraten war.
Anfang der achtziger Jahre – also durchaus synchron zu meiner Beschäftigung mit dem „Zweiten Hauptsatz“ – war ich mit dem Werk Immanuel Velikovskys in Berührung gekommen. In diesem wurden regionale, insbesondere vorderasiatische Chronologien vor dem Hintergrund globaler bzw. kosmischer Katastrophen neu synchronisiert und die Menschheits- und Naturgeschichte damit revolutioniert. Der öffentliche Umgang mit Immanuel Velikovsky war – unabhängig von dem Urteil der Geschichte über seine Thesen – so offenkundig unsachlich und verbohrt, dass ich darin das Grundschema neurotischen Umgangs in der Wissenschaft einschließlich ihrer öffentlichen Rezeption zu erkennen meinte.
Wie die Psychologie Freuds konnte die interdisziplinäre Theorie Velikovskys auch in Ansatz gebracht werden, um ihre öffentliche Ablehnung zu erklären: Die Menschheit war durch globale Katastrophen, die in historischer Zeit erfolgt waren, traumatisiert worden. Infolgedessen hatte sie Rituale kultiviert und Normen erstellt, welche verhindern sollten, dass diese Ereignisse ins Bewusstsein wachgerufen wurden. Das war letzten Endes keine sehr hilfreiche Argumentation, denn sie desavouierte automatisch jede Gegenkritik, wo es doch auch darum gehen musste, sich ihr inhaltlich zu stellen. Gleichwohl machte es deutlich, dass die psychologische Ebene nicht ausgespart werden durfte, wollte man tiefgreifend verstehen, warum die Auseinandersetzung mit einer grundstürzend neuen Sichtweise so sehr von Abwehr bestimmt war, selbst wenn diese – wie im Falle der Kritik der Wärmelehre – mit einer Utopie statt mit einer Dystopie verbunden war.
Meine Beschäftigung mit den Thesen Velikovskys haben auch in diesem Buch Spuren hinterlassen. So wird die antike Gesellschaftsform mit Blick auf den katastrophischen Untergang der bronzezeitlichen Feudalgesellschaft als männerbündisch angelegt beschrieben und die damit verbundene Aversion gegenüber technokratischen, den Narzissmus kränkenden Strukturen als ursächlich dafür angesehen, dass die Entfaltung technischer Produktivkräfte in der Antike ausgeblieben ist.
Ursprünglich war ich sogar soweit gegangen, in der Entwicklung eisenzeitlicher Gesellschaftsformen – von der Entstehung der griechischen Polis bis zur modernen Privateigentumsgesellschaft – dasselbe Schema wiederzuerkennen, welches Freud in „Totem und Tabu“ (mit Blick auf die individuelle Psychogenese) als Phylogenese der Gattung Mensch (einschließlich einer Eiszeit als Pendant zur sog. Latenzzeit) rekonstruiert hatte.
Weitgehend unabhängig davon zeichnete sich zur selben Zeit ein Paradigmenwechsel in der Geologie ab, entzündet durch eine Veröffentlichung von Luis und Walter Alvarez (Extraterrestrial Cause for the Cretaceous-Tertiary Extinction, Science Bd. 208, 1980) über die Entstehung einer Iridium-Schicht, welche tertiäre Schichten offenbar global von der darunter liegenden Kreideformation zu trennen schien. Sie führten diese Schicht auf den Einschlag eines (iridiumhaltigen) Kometen zurück, der möglicherweise auch die schlagartige Ausrottung der Dinosaurier herbeigeführt hatte.
Die unerhörte Publikumswirksamkeit dieser These, die mit ihr verbundene radikale Lösung eines überkommenen (fast schon ranzig gewordenen) Rätsels der Fossilkunde bzw. der Abstammungslehre und nicht zuletzt das Renommee der Autoren dieser Studie hielten ihre Debatte über Jahre hinweg im gesamten Spektrum zwischen reiner Polemik und fieberhafter inhaltlicher Diskussion am Kochen. Und erstaunlicherweise wurden katastrophistische Erklärungen geologischer und damit auch fossilkundlicher Phänomene – nachdem diese seit etwa der Mitte des 19. Jahrhundert zunehmend als intellektuelle Verirrung gegolten hatten – binnen weniger Jahre wieder salonfähig. Eine Ära animistischer Weltversicherung unter dem Regime des Dogmas „Uniformitarismus“ schien damit ihrem Ende zuzugehen.
Mit dem Revival des Katastrophismus hätte auch das überkommene Modell zeitverschlingender, allmählicher Akkumulation kleinster Veränderungen auf den Prüfstand kommen müssen. Nichtsdestotrotz führte diese „Paradigmenerweiterung“ in der Geologie zu keinerlei Neuansätzen für die Absolutchronologie der Erdgeschichte. Er übertrug sich auch nicht auf die Evolutionstheorie, welche sich zwar mit den Folgen der schlagartigen Vernichtung ganzer Arten auseinanderzusetzen begann, aber keinerlei Impuls verspürte, deren ebenso schlagartige Entstehung in Erwägung zu ziehen oder gar zu modellieren.
Mit Überlegungen, wie Entwicklung zielgerichtet und nicht zufallsbestimmt ablaufen könne, geriet man auch schnell zwischen die Fronten fundamentalistischer Schriftgläubiger einerseits und radikaler Evolutionsgläubiger andererseits, die beide gleichermaßen für die „wahre“ Geschichte der Entstehung des Lebens im allgemeinen und des Menschen im Besonderen in den Kampf zu ziehen bereit sind. Bei kaum einer anderen Fragestellung offenbart sich so schonungslos die latente Bereitschaft, unreflektiert gebliebene Annahmen im Rudel für Wahrheit zu halten, und ist die Herausforderung so groß, elementaren Fragen bewusst und unvoreingenommen zu begegnen.
Mein Buch „Maschinenkinder“ wurde mir in Erinnerung gerufen, als ich im November 2010 auf der Trauerfeier für Hans-Ulrich Niemitz unseren gemeinsamen alten Bekannten Ulf Heinsohn wiedertraf, dessen Onkel Gunnar Heinsohn das Vorwort zur 1. Auflage geschrieben hatte. Zusammen mit Michael Vogelsang hatten wir zu viert über viele Jahre die Veranstaltungen des „Berliner Geschichtssalons“ geplant und durchgeführt. Ulf stellte mich einem Kollegen als Autor besagten Buches vor und ließ es sich nicht nehmen, dessen inspirative Bedeutung für seine Forschungen zu betonen. Dies machte mich nachdenklich und bewegte mich dazu, das Buch nach so langer Zeit doch noch einmal in die Hand zu nehmen.
Die neuerliche Lektüre stürzte mich in einen tiefen Zwiespalt. Einerseits lehnte ich die darin aufgezogene Frontstellung als letztlich kontraproduktiv ab, andererseits erschien es mir im positiven Sinne als ein radikales Buch, dessen Thesen zu reflektieren mit einem Gewinn verbunden sein sollte. Nicht zuletzt wurde mir auch die geradezu ekstatische Atmosphäre in Erinnerung gerufen, die mich bei der Abfassung des Textes immer wieder befallen hatte und die entscheidend dazu beigetragen hatte, ihn durch alle Schwierigkeiten hindurch zu Ende zu bringen. Doch auch das konnte nur zu meinem Zwiespalt beitragen, ist doch anzunehmen, dass eine solche Ekstase für die Selbstkritik, die den Schöpfungsprozess eines Sachbuches begleiten sollte, nicht eben förderlich ist.
In diesem Zwiespalt siegte am Ende die Lust zur Auseinandersetzung, weshalb dieses Buch – zu dessen Neuausgabe Ulf Heinsohn dankenswerterweise ein neues Vorwort beigesteuert hat – nunmehr ein zweites Mal in die Öffentlichkeit getragen wird.